Wer keinen Fahrradhelm trägt hat selbst Schuld?

Zumindest zum Teil, so sieht es das Oberlandesgericht OLG Schleswig Holstein (siehe Urteil hier) und gab einer Radlerin 20% Mitschuld bezogen auf die Folgen eines Sturzes, bei dem sie sich schwer am Kopf verletzt hatte. Eine Autofahrerin hatte die Türe geöffnet und den Sturz dadurch verursacht. Die Begründung für die Mitschuld ist, dass sie „Schutzmaßnahmen zu ihrer eigenen Sicherheit unterlassen hat“ (so genanntes „Verschulden gegen sich selbst“, abgeleitet aus § 254 BGB).

Was sagt man dazu?

Zunächst einmal gibt es keine Pflicht einen Helm zu tragen. Die Radlerin hat also nicht rechtswidrig gehandelt – das wurde ihr auch nicht vorgeworfen. Vielmehr wird argumentiert, dass man aufgrund des hohen Risikos, dem man auf dem Rad im Verkehr ausgesetzt ist „nach dem heutigen Erkenntnisstand grundsätzlich davon ausgegangen werden [kann], dass ein verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens beim Radfahren einen Helm tragen wird.“

Bauchgefühl wiegt schwerer als Fakten

Dem verständigen Menschen gebietet sich also das Tragen eines Fahrradhelmes? Dem könnte man zustimmen, gäbe es klare Erkenntnisse, dass Menschen mit Helm auf dem Fahrrad sicherer sind. Das ist jedoch nicht so eindeutig. Es ist zwar richtig, dass ein Helm Unfallfolgen lindern kann, damit ist der Beweis aber noch nicht angetreten, dass man mit dem Helm generell sicherer unterwegs ist – und nur das würde meines Erachtens eine Mitschuld begründbar machen. Sicherheit im Verkehr ist jedoch eine komplexe Angelegenheit, da reicht der bloße Hinweis auf die mechanische Schutzwirkung eines Helms nicht, es müssen empirische Belege her. Und genau die fehlen. Wissenschaftlerinnen und Unfallforscher kommen seit Jahrzehnten zu keinem klaren Ergebnis. Im Gegenteil: Häufig kommen sie zu dem paradox erscheinenden Resultat, dass Helmtragende im Verkehr sogar gefährdeter sind. Zuletzt hat Holger Dambeck diese Unklarheit in der Unfallforschung in einem längeren Artikel dargelegt. Effekte, die die Schutzwirkung eines Helmes abschwächen oder gar ins Gegenteil kehren können sind durchaus denkbar – etwa dass ein Helm dazu führt, dass alle Verkehrsteilnehmenden wegen des scheinbaren Schutzes mehr Risiko eingehen und dadurch den schützenden Effekt konterkarieren (so genannte Risiko-Homöostase). Kurz gesagt: Es ist möglich, dass der Schutz vor Kopfverletzungen beim Fahrradfahren durch das Tragen eines Helms durch die gleichzeitige Erhöhung eines anderen Risikos teil- oder überkompensiert wird.

Fakt ist jedenfalls: Nach heutigem Kenntnisstand ist nicht eindeutig zu klären, ob es vernünftig ist, einen Helm zu tragen oder nicht. Und genau das ist der Punkt: Es ist von einem verständigen Menschen eben nicht zu erwarten, dass er oder sie zum Schutz einen Helm trägt. Es ist eher zu erwarten, dass verständige Radfahrende rätselnd vor den Fakten stehen und mit gutem Grund das tun, womit sie sich am wohlsten fühlen. Und genau deshalb ist die Gerichtsentscheidung aus meiner Sicht falsch.

Ausstrahlung des Urteils, weiteres worüber es zu diskutieren lohnt

Das Urteil bietet dazu noch eine Menge Gesprächsstoff, z.B. weil es eine ziemlich Auto gerechte (autonormative) Perspektive einnimmt – etwa die für den geforderten Selbstschutz herangezogene Argumentation, Radfahrer würden von Kraftfahrern oftmals nur als störende Hindernisse im frei fließenden Verkehr empfunden. Das mag in vielen Fällen stimmen, aber das ist ein Problem der Autofahrenden. Statt sich aber auf die Seite der Radfahrenden zu stellen – die ebenfalls ein Recht haben, da zu sein -, wird die Aggressionen der Einen erstens als normal dargestellt und daraus dann eine Schutzpflicht der Anderen abgeleitet. Das ist meines Erachtens absurd und ich spare mir an dieser Stelle Analogien zu anderen Lebensbereichen, in denen man nach dem gleichen Strickmuster die tollsten Selbstschutzmaßnahmen von Opfern von Aggressionen fordern könnte. Wie wäre es stattdessen mit § 1 StVO:

(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht

(2) Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

Weiter stellt das Gericht fest: „Die Anschaffung eines Schutzhelms ist darüber hinaus wirtschaftlich zumutbar.“ Das mag für die Richterin und Ihre Kolleg_innen stimmen, es stimmt aber auch, dass ein guter Helm rund 50 Euro kostet und bspw. ein Haushalt mit vier Personen demnach alle paar Jahre 200 Euro für Helme zahlen muss. Wer, wie aktuell etwa 4,5 Millionen Menschen in Deutschland, ALG II/Hartz IV bezieht, hat das unter Umständen nicht (Vergleich am Rande: Die mittlerweile abgeschaffte „Praxisgebühr“ von 10€ pro Kopf und Quartal hat laut der Zeitschrift Deutsches Ärzteblatt rund 12% der Bevölkerung dazu gebracht, Arztbesuche aus wirtschaftlichen Erwägungen zu verschleppen). Die Bewertung des Gerichts ist aus sozialen Gesichtspunkten alles andere als umsichtig.

Neben dem sozialen Aspekt ist ein Helm aber auch aus volkswirtschaftlicher Gesamtsicht eine zweifelhafte Investition – die Kosten eines Helms sind um ein Vielfaches höher, als die bundesweiten pro-Kopf Investitionen für den Radverkehr – die liegen je nach Bundesland bzw. Gemeinde bei etwa 3 – 5 Euro jährlich. Eine Vervielfachung des Radhaushalts würde den Bau sicherer Radinfrastruktur ermöglichen – und das führt im Gegensatz zum Helmtragen eindeutig zu mehr Verkehrssicherheit (näheres dazu hier).

e-Rad Hafen zum Thema Radpolitik


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7 comments

  1. Dazu aus http://www.recht-für-radfahrer.de/Aktuelles.html
    Das OLG Schlewig schrieb einer Alltagsradfahrerin ein Mitverschulden von 20 Prozent an den Unfallfolgen zu, weil sie keinen Helm getragen hatte – also auch an jenen Schadenspositionen, die in keiner Hinsicht vom Nichthelmtragen beeinflusst worden sein können. Glaubenssätze bezüglich der Gefahren beim Radfahren und bezüglich der Helm-Wirksamkeit werden hier ebenso für wahr erklärt, wie Phantasien, was ein nach Ansicht der Richter „ordentlicher und verständiger Mensch“ so tue. Letztlich lassen die Richter durchblicken, warum sie der Radfahrerin den Schadensersatz absprechen, sie schreiben ausdrücklich: Der gegenwärtige Straßenverkehr sei besonders dicht, „wobei motorisierte Fahrzeuge dominieren und Radfahrer von Kraftfahrern oftmals als störende Hindernisse im frei fließenden Verkehr empfunden werden“. Das dürfte nicht nur eine berichtete Erscheinung sein (OLG Schleswig, DAR 2013, 470; wörtlich abgeschrieben übrigens von Geigel//Knerr, Der Haftpflichtprozess, München 2011, Kap. 2 Rz. 58), sondern die Erlebniswelt und Gefühlslage der entscheidenden Richter. Da kann man schon mal vergessen, dass Radfahrer nach § 2 Absatz 1 StVO auf die allgemeine Fahrbahn gehören, dass sie da nach der Unfallforschung der letzten Jahrzehnte sicher sind und auch, dass Radfahrer nicht Verkehr stören, sondern Verkehr sind. Die Richter meinen zudem, dass ihre unrealistischen, nicht weiter belegten und nicht belegbaren Annahmen „nicht ernsthaft angezweifelt“ würden, obwohl in der juristischen Fachliteratur schon nachzulesen war, dass und warum sie allesamt falsch sind (Kettler, NZV 2007, 39f und Kettler, NZV 2007, 603ff). Unter anderem ist das Radfahren relativ ungefährlich und es fehlt bis heute an jedem statistischen Wirksamkeitsnachweis für das Helmtragen.
    Mehr zur Haftung nach Unfällen mit und ohne Helm finden Sie in der aktuellen Auflage von Recht für Radfahrer, in meiner Urteilsanmerkung in NZV 2007, 39f und in meinen Aufsatz in NZV 2007, 603ff.

  2. Ich möchte an keiner Stelle Aussagen zur tatsächlichen Auswirkung eines Helmes bei einem Unfall treffen (jedoch u.a. anmerken, dass die US-Behörden m.W. seit kurzem nicht mehr auf die extrem unwissenschaftliche 85%-Schutzwirkung-Studie Bezug nehmen). Dennoch kurz zu dieser leidigen Sache:

    Aus dem Rennradbereich ist entsprechendes schon länger bekannt, bei völlig unklaren Abgrenzungskriterien ist die Sachlage dort insoweit anders, als sich dort das Helmtragen bei Veranstaltungen nahezu durchgesetzt hat. Insofern hat der durchschnittliche “verständige” Mensch bei Veranstaltungen einen Helm auf. Inwieweit “sportliche Fahrweise” eindeutige Auswirkungen auf die Unfallgefahr hat, möchte ich mal dahingestellt lassen, hier wird m.E. ohne weitere Begründung von besonderen Risiken ausgegangen.

    Neben schon genannten Argumenten (menschlich wie juristisch halte ich zu starke Polemik für kontraproduktiv, verstehe aber den ursächlichen Gemütszustand) stellte ich auf den ersten Blick u.a. darauf ab, dass der “verständige Mensch” heutzutage nach der Urteilsbegründung ein seltenes Exemplar sein müsste, wenn man sich die Helmtragequote anschaut. Es besteht zwar eine (stark propagierte) diffuse Angst gekoppelt an das unbestimmte Gefühl, ein Helm würde schützen, aber von einem gesellschaftlichen Konsens des Helmtragens sind wir weit entfernt.

    Angesichts der extrem inhomogenen Gruppe der Radfahrer stellt sich zudem die Frage, ab wann denn das allgemeine Lebensrisiko soweit überschritten ist, dass ein Helm verlangt werden könnte. Bei bestimmten Radtypen/Geschwindigkeiten/Fahrern wäre das Verlangen eines Helmes im Gegensatz zu anderen Verkehrsteilnehmern/Tätigkeiten eben offensichtlich absurd. Wenn ein Radprofi mit Schrittgeschwindigkeit einen Beachcruiser fährt, sehe jedenfalls ich ein anderes Gefährdungspotenzial als wenn ein Oldtimerfahrer (ohne Airbag) oder ein Crossläufer ohne Helm unterwegs sind.

    Wenn man also trotz fehlender Helmpflicht anhand evidenter Schutzwirkung (das ist mir i.Ü. neu) ein Mitverschulden (und damit Zahlungsminderung der Versicherung) daran festmachen wollte, dass ein verständiger Bürger (derzeit etwa jeder 9. oder 10.) einen Helm trüge, bewegt man sich m.E. auf wenig substanzieller Grundlage.

    Bemüht man sich dagegen um Daten, Fakten und Zahlen, so findet man extrem widersprüchliche Zahlen zur Schutzwirkung, einige Anhaltspunkte für gleiche oder höhere Kopfverletzungrisiken bei anderen Verkehrsteilnehmern, absolut recht geringe Opferzahlen im Verhältnis zu anderen ähnlich alltäglichen, aber unreglemtierten Risiken und m.E. insgesamt wenig tragfähige Argumente.

    Insgesamt scheint mir psychologische Komponente recht hoch. Auch wenn sich die meisten mir bekannten Radfahrer garnicht als bessere Menschen oder Anarchos begreifen, wird Ihnen dies vielfältig vorgeworfen. Verkehrsplanerisch, unfallstatistisch und ökologisch lässt sich Radfahrern nichts vorwerfen, was nicht als kräftigerer Bumerang zurück schlägt. Regelverletzungen unbestimmten Ausmaßes gibt es in der Tat, doch mit vergleichsweise wenig Fremdschäden. Gleichzeitig scheinen Radfahrer trotz allem oft glücklich und augenscheinlich oft schneller, günstiger sowieso. Vielleicht regt sich sogar einfach durch die Anwesenheit bei manchem das schlechte Gewissen ob der eigenen (vermeintlichen) Bequemlichkeit. Die Bedeutung dieser Komponenten scheint mir manchmal recht hoch angesichts mancher irrationaler Bemühungen, Radfahrern eins “reinzuwürgen”. Wenn alle rationalen Argumente dagegen sprechen, man aber dennoch mit “Basta”-Bauchgefühl “argumentiert” muss dies m.E. einen psychologischen Hintergrund haben. Da wären allerdings andere Experten gefragt.

    Eine Prognose für ein Rechtsmittel oder ähnliche Fälle möchte ich allerdings nicht wagen, zu unsicher ist mir die Frage, ob Kleinigkeiten wie “erwiesene Schutzwirkung” oder Verhältnismäßigkeit im Vergleich mit anderen statistisch vergleichbaren Betätigungen dort ernsthaft Auseinandersetzung fänden. Solange “jeder weiß, dass Helme super schützen” sind rein rechtlich mit etwas Biegen und Brechen solche Urteile möglich.

  3. Es sieht ja mittlerweile ganz danach aus, dass auch einige Versicherungen erste Konsequenzen aus diesem Urteil ziehen werden. Im Prinzip bedeutet das ja eine „indirekte Helmpflicht“. Es bleibt also zu hoffen dass das Urteil angefochten wird..

    1. Genau darum geht es liebe Sandra,die Versicherungslobby hat anscheinend auf einem der letzten „Verkehrsgerichtstage“,einer alljährlich stattfindenden Tagung der Verkehrsjuristen,diese Vorgehensweise vehement „angeregt“.
      Ähnliche Teilschuld-und Selbstbeteiligungslösungen für Unfallopfer werden auch sonst immer dann angenommen,wenn das Opfer – bei ansonsten ganz eindeutiger,unbestrittener Schuld des Unfallgegners – nach Meinung des Gerichts das Unfallopfer nicht alles getan hat,den Unfall zu vermeiden.
      Wann dies anzunehmen ist unterliegt natürlich der Beurteilung durch den Richter….
      Es geht also einzig und allein darum den Versicherungen Geld zu sparen.
      Und warum machen Richter bei diesem perfiden Spiel mit?
      Möglicherweise sorgen ja die Versicherer bei den Tagungen für das notwendige stylische Rahmenprogramm…man kennt das von Ärztekongressen,wo die Pharmabranche für diesen Part zuständig ist.

  4. Danke Steini für die Zahlen !
    Dennoch jeder Verkehrstote oder -verletzte ist einer zuviel.
    Mehr für die Schwächsten, nämlich Fußgänger und Radfahrer tut not , deshalb ist Radwegeplanung und Fußgängersicherheit weiter TOP Thema!

  5. Von den 3.648 im Jahr 2010 im Straßenverkehr getöteten Personen war:
    jeder zweite ein Insasse in einem Pkw
    jeder sechste ein Fahrer oder Mitfahrer auf einem Motorrad
    jeder achte ein Fußgänger
    jeder zehnte ein Radfahrer
    (Quelle: http://www.nationaler-radverkehrsplan.de/neuigkeiten/news.php?id=3329

    Ich finde, man sollte die Helmpflicht mal da einführen, wo sie am meisten bringt. Bei den Autofahrern. Jeder Ralley- oder Rennfahrer weiss das.

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